Heft 4 / 2004: "Leben im Alter"

Anton Amann

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Wandel der Altersstrukturen. Widersprüche und Zukunftsszenarien

In den letzten 20 Jahren ist über den Alterungsprozess der Bevölkerungen in den Industriestaaten so intensiv wie nie zuvor diskutiert worden. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Diskussion legt den Schluss nahe, dass eine ständig wachsende Gruppe von Menschen – die Älteren – als eine Belastung oder gar als ein Risiko für die Zukunft angesehen wird. Hier sind differenzierte Analysen nötig. In der Debatte über den Alterungsprozess dominieren Perspektiven, die auf steigende Belastungen für die Gesellschaft durch eine alternde Bevölkerung ausgerichtet sind und die den Beitrag älterer Menschen für die gesellschaftliche Entwicklung problematisieren. Diesen Sichtweisen wird mit Argumenten begegnet, die auf Basis von Forschungsbefunden eine Relativierung der heute gängigen Altersbilder ermöglichen. In diesem Zusammenhang werden Überlegungen zur »Produktivität« des Alters und Szenarien für die Zukunft des Alters formuliert.

Heinz Blaumeiser / Elisabeth Wappelshammer

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Partizipation und Vertretung von Senioren 

Für die Entwicklung einer beteiligenden Kultur in lokalen Öffentlichkeiten gibt es unter älteren Menschen große Potenziale. Um sie wirksam zu machen, bedarf es entsprechender Voraussetzungen und Rahmenbedingungen. Einführend stellen wir unsere Überlegungen zur Partizipation in den allgemeineren Rahmen von Modernisierung und skizzieren die empirische Basis unserer qualitativen Studien. Dabei haben das Nachwirken von Defiziten der demokratischen Kultur sowie die fortschreitende Differenzierung der Altersbilder unseren Blick auf die Ebene der kommunalen Sozialpolitik als der unmittelbaren Lebens- und Lernumwelt alter Menschen gelenkt: Hier wird Wohlfahrt im komplexen »Mix« verschiedener Handlungsbereiche produziert, an denen ganz unterschiedliche Akteure in verschiedenartiger Weise beteiligt sind und die Anliegen von Senioren beeinflussen. Nachdem wir das Spektrum möglicher Partizipationsformen im Allgemeinen aufgezeigt haben, konzentrieren wir uns im Hauptteil auf Seniorenvertretungen: Wir zeichnen deren historische Entwicklung und typologische Vielfalt nach und fassen schließlich unsere Erfahrungen zu ihren Tätigkeiten und den Kompetenzanforderungen zusammen, aus denen wir zuletzt Perspektiven und Forderungen für die weitere Entwicklung ableiten.

Franz Kolland / Silvia Kahri

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Bildung im Alter. Zwischen Exklusion und sozialer Differenzierung

Die Vorstellung des »lebenslangen Lernens« bezieht sich immer stärker nicht nur auf die erwerbsarbeitsorientierte Aus- und Weiterbildung, sondern auf ein Lernen, welches den gesamten Lebenslauf einschließt. Sowohl demografische Faktoren als auch Fragen der gesellschaftlichen Integration der älteren Menschen sind Gründe dafür, sich mit Bildung im Alter zu beschäftigen. Das Thema dieses Artikels bildet das bestehende Bildungsangebot für ältere Menschen in Österreich. Der Beitrag beruht auf einer Studie, die vom Bundesministerium für Soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz finanziert wurde. Ziel war die Untersuchung der Bildungsangebote für ältere Menschen aus dem Blickwinkel von Bildungsorganisationen. Befragt wurden sowohl ExpertInnen als auch KursleiterInnen der Bildungsarbeit mit älteren Menschen. Als zentrales Ergebnis kann eine Vielfalt von Angeboten und Anbietern identifiziert werden – die Zahl der Kurse ist allerdings insgesamt gering. Mit Bildung im Alter verknüpfen die KursleiterInnen sowohl kustodiale (betreuende, fürsorgende) Aspekte als auch Aspekte der Wissensvermittlung und Kompetenzen der Alltagsbewältigung.

Ruth Simsa / Christian Schober / Doris Schober

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Belastete AltenpflegerInnen. Zur Notwendigkeit verbesserter Rahmenbedingungen für eine langfristige Qualitätssicherung der Altenpflege

Die vorliegende Arbeit fasst Ergebnisse einer im Jahr 2002 durchgeführten Erhebung zu den Themen Personalmanagement, Arbeitszufriedenheit und Motivation in Organisationen der mobilen Dienste der Altenbetreuung sowie in Alten- und Pflegeheimen zusammen. Die erhobenen Daten werden mit jenen des österreichischen Arbeitsklima-Index verglichen: Sie zeigen, dass die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten der untersuchten Organisationen deutlich unter dem österreichischen Durchschnitt liegt und Belastungen in vielen Bereichen signifikant höher sind. Neben Rahmenbedingungen, die insbesondere durch das Verhältnis zur öffentlichen Hand geprägt sind, ist teilweise auch mangelndes Personalmanagement für die prekäre Arbeitssituation verantwortlich.

Doris Wydra

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(K)Ein Raum der Solidarität? Herausforderungen für ein europäisches Solidaritätskonzept nach der Finanzkrise 

Mit dem Vertrag von Lissabon von 2009 sollte eine Neubegründung der Europäischen Union gelingen, basierend auf dem im Vertrag beschworenen „Geist der Solidarität“, der ein gemeinschaftliches Handeln ungeachtet der Diversität der Mitgliedsstaaten ermöglichen soll. Zum bestimmenden Begriff der bereits kurz nach Vertragsabschluss einsetzenden Schuldenkrise wurde jedoch die „Austerität“, während die „Solidarität“ in den Hintergrund trat. Dieser Artikel stellt daher die Frage nach Wesensgehalt und Grenzen der Solidarität und nähert sich den Antworten über eine Auseinandersetzung mit ordoliberalen Grundideen an, die gerade in der Eurokrise, auch aufgrund der gefühlten Dominanz Deutschlands, wieder in der Fokus der akademischen Debatten gerückt sind. Es entsteht dabei das Bild einer Solidarität, die ihr konstitutives Element in der Wirtschafsverfassung selbst hat und vor allen Dingen zur Einhaltung der Regeln verpflichtet. Sie scheitert am Versagen dieser Verfassung, gleichermaßen Wachstum und Wohlstand für alle zu schaffen..

Precarious Solidarity? Challenges for a European Concept of Solidarity after the Financial Crisis  

Nevertheless, the re-foundation of the European Union was the aim of the Treaty of Lisbon in 2009. Based on the  „spirit of solidarity“, which is addressed several times in the treaty text, a closer cooperation between member states is being envisaged despite their differences. But when shortly after the entry-in-force of the treaty of the European Union the debt crisis broke out, it was not solidarity, which took the front line, but the term „austerity“ became the core issue of debates. This article therefore scrutinizes the essence and limits of European solidarity and approaches the topic from the perspective of ordo-liberalism. This follows a renewed academic interest into this German economic philosophy, also because a German dominance was perceived during the crisis. Following this line, a concept of solidarity is being established, which finds its constitutive element in the economic constitution and establishes rule-abidance as the main obligation towards the community. This concept of solidarity founders with the failures of the ecomonic constitution to create growth and wealth for all.

Hermann-Josef Große Kracht

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Solidaristische Solidarität und die Suche nach einer postliberalen Sozialtheorie. Comte, Durkheim und der französische Solidarismus 

Der Begriff der „Solidarität“ erfreut sich hoher Beliebtheit und wird zumeist im moralischen Wärmestrom von Werten und Tugenden, von sozialer Verantwortung, Gemeinsinn und Gemeinwohl verwendet. Dabei wird oft übersehen, dass er theoriegeschichtlich vor allem aus der französischen Soziologie des 19. Jahrhunderts stammt und von Comte und Durkheim geprägt wurde. Er beschreibt hier die Struktur des sozialen Zusammenhalts moderner Gesellschaften, der sich nicht länger der Religion oder Moral, sondern der kalten Prozesse einer arbeitsteiligen motivierten funktionalen Differenzierung verdankt. In der Zeit der Jahrhundertwende entwickelte die heute kaum noch bekannte sozialpolitische Reformbewegung des französischen Solidarismus, getragen von Autoren wie Alfred Fouillée, Charles Gide und Léon Bourgeois, dieses soziologische Solidaritätskonzept dann weiter zu einer modernen, spezifisch postliberal angelegten Theorie des republikanischen Rechts- und Wohlfahrtsstaates. Der Artikel plädiert für eine Wiederentdeckung dieser Theorietradition, deren Anregungspotenzial noch lange nicht erschöpft ist.

Solidaristic Solidarity and the Search for a Postliberal Social Theory. Comte, Durkheim and French Solidarism  

Talking about solidarity, enjoys high popularity, because the term seems narrowly connected with a certain normative head-flow looking for moral sources of threatend feelings of human unity and a sense of community. In this context, it is often being forgotten that solidarity originally has nothing to do with human virtue or moral feelings. In the history of ideas, the concept of solidarity had emerged in French sociology of the 19th century in social theories of Comte and Durkheim. In their writings the solidarity describes the structure of social cohesion in modern societies, nourished not any longer by religion or morals, but by cold functional differentiation due to intensive processes of division of labor. At the turn of the century the currently little known French social reform movement of solidarisme, carried by authors like Alfred Fouillée, Charles Gide and Léon Bourgeois, developed further this sociological concept of solidarity to a postliberal theory of modern republicanism and the emerging welfare state. The article pleads for a rediscovery of this forgotten French tradition of postliberal republican solidarity and its potential, which has not yet been exploited.